18
Das Mittagsmahl war ein Schlangenfraß. Das in den doppelten Boden des Grals eingebaute »Roulette« eines Zufallsgenerators versorgte ihn diesmal mit einer Mahlzeit, die höchstens ein ausgehungerter Großstadtpenner als verdaulich angesehen hätte, wenngleich bei ihrem Verzehr auch seine Magenwände ungewöhnliche Verkrampfungen hätten zeigen müssen. Sam entnahm seinem Gral die Lebensmittel, warf sie weg und begnügte sich mit zwei Zigarren, einigen Zigaretten und sechs Unzen eines ihm unbekannten alkoholischen Getränks, dessen Geruch allein seine Geschmacksnerven zum Klingen brachte.
Das anschließende Treffen mit John und dem Rat dauerte drei Stunden. Nach einigen Diskussionen und Abstimmungen wurde der Beschluß gefaßt, die Bevölkerung darüber abstimmen zu lassen, ob eine Änderung der Magna Charta durchgeführt werden sollte, damit es möglich wurde, einen Protem-Ratsherrn zu wählen. Bevor es allerdings dazu kam, hielt John die Versammlung eine Stunde lang mit dem Einwand auf, daß eine Abstimmung unnötig sei. Warum konnte die Ratsversammlung nicht von sich aus einen Ergänzungsantrag einbringen und es dabei bewenden lassen? Jede Erklärung, die man ihm gab, schien einfach nicht in seinen Kopf hineinzugehen. Nicht etwa, daß John ein Dummkopf war: Es paßte ihm einfach nicht, daß in einer Demokratie Leute das Sagen hatten, die nicht wie er eine Führungsfunktion einnahmen.
Man beschloß einstimmig, Firebrass als Hackings Stellvertreter zu akzeptieren, nahm sich jedoch vor, ihn keine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Anschließend stand John auf und hielt eine Rede, wobei er hin und wieder, wenn seine Gefühle ihn überwältigten, vom Esperanto in sein normannisches Französisch überwechselte. Er plädierte dafür, daß Parolando Soul City überfallen sollte, bevor Hacking Parolando angriff. Die Invasion sollte sofort nach Fertigstellung der ersten zweihundert Schußwaffen stattfinden und sobald die Feuerdrache einsatzbereit sei. Um die eigene Kampfkraft zu testen, sei es vielleicht angebracht, sie zuerst an Neu-Britannien zu testen. Seine Spione hätten angeblich herausgefunden, daß Arthur ebenfalls einen Angriff auf Parolando plane.
Seine beiden Speichellecker unterstützten ihn kräftig dabei, aber die anderen, einschließlich Sam, stimmten ihn nieder. Johns Gesicht lief rot an, er fluchte, drohte und drosch mit beiden Fäusten auf den eichenen Versammlungstisch ein, aber niemand änderte seine Meinung.
Nach dem Abendessen überbrachten die Trommeln eine Botschaft von Hacking. Firebrass würde am nächsten Tag, um die Mittagszeit herum, in Parolando ankommen.
Sam zog sich in sein Büro zurück. Im Licht der fischölgespeisten Lampe – es würde nicht mehr lange dauern, bis sie auf Elektrizität überwechseln konnten – diskutierte er zusammen mit van Boom und den beiden anderen Ingenieuren, Tanja Welitskij und John Wesley O’Brien, seine Auffassung von der Konstruktion des Schiffes und brachte sie vorerst in rohen Skizzen zu Papier. Papier war ebenfalls noch knapp. Wenn es an die Reinzeichnungen ging, würden sie Unmengen davon benötigen. Van Boom meinte, daß man so lange warten solle, bis sie in der Lage seien, eine bestimmte Art von Kunststoff herzustellen, auf dem man mit magnetisierten »Schreibern« Linien ziehen könne. Außerdem könne man auf Material dieser Art sehr leicht Korrekturen vornehmen. Sam hielt das für einen guten Einfall; bestand jedoch darauf, mit dem Bau des Schiffes in dem Moment zu beginnen, in dem der Prototyp fertiggestellt war. Van Boom war damit nicht einverstanden. Seiner Meinung nach mußten sie noch zu viele Engpässe im Bereich anderer Materialien überwinden.
Als das Treffen sich dem Ende zuneigte, zog van Boom eine Mark I aus einem mitgebrachten Sack. »Wir haben jetzt zehn Stück fertiggestellt«, sagte er. »Diese hier gehört Ihnen. Ich überreiche sie mit den besten Empfehlungen der Ingenieursvereinigung von Parolando. Und hier sind zwanzig Pulverladungen und ebenso viele Plastikkugeln. Sie sollten sie unter ihr Kopfkissen legen.«
Sam dankte ihm. Dann brachen die Ingenieure auf, und er verrammelte die Tür. Anschließend ging er ins Hinterzimmer und unterhielt sich eine Weile mit Joe Miller. Joe war noch wach und sagte, daß er in der kommenden Nacht keinerlei Beruhigungsmittel nehmen wolle. Er habe vor, am nächsten Morgen wieder aufzustehen. Sam wünschte dem Riesen eine gute Nacht, zog sich in sein neben der »Brücke« liegendes eigenes Schlafzimmer zurück, trank zwei Schlucke von dem Bourbon und legte sich nieder. Nach einer Weile gelang es ihm trotz des ständigen Gedankens an den Drei-Uhr-Regen, der ihn unbarmherzig wecken und ihm erneute Einschlafbeschwerden verursachen würde, einzuduseln.
Als er erwachte, war die Regenperiode längst vorbei. Von irgendwoher drangen Rufe an seine Ohren, dann ließ eine Explosion sein Haus erbeben. Sam sprang aus dem Bett, schlang einen Kilt um seine Hüften und stürmte auf die »Brücke«. Erst jetzt fiel ihm die Pistole ein, aber er rang sich dazu durch, sie erst dann zu holen, wenn er herausgefunden hatte, was dort draußen vor sich ging.
Der Fluß war noch immer von dichten Nebelbänken bedeckt, aber dennoch konnte er mit aller Deutlichkeit Hunderte von Männern daraus hervorbrechen sehen. Sam sah die Mastspitzen mehrerer Schiffe. Überall am Uferstreifen flackerten Fackeln auf. Die Warntrommeln erzeugten ungeheuren Lärm.
Und dann eine weitere Explosion. Die Tore der König Johns Palast umgebenden Palisadenwand flogen auf und Männer strömten heraus. Sogar John selbst befand sich unter ihnen.
Das Nebelfeld am Fluß spuckte jetzt immer mehr Männer aus. Unter dem Sternenlicht konnte Sam erkennen, daß sie kriegsmäßige Formationen einnahmen. Die ersten Invasionstruppen hatten jetzt das Fabrikgelände erreicht und bewegten sich über die Ebene hinweg auf das Hügelgebiet zu. Einige der Explosionen schienen direkt aus den Fabriken zu kommen, als lege man es dort darauf an, die Invasoren zu verwirren. Sam sah plötzlich einen in seine Richtung rasenden Feuerschweif und warf sich auf den Boden. Es krachte, dann begann unter ihm der Boden zu wackeln. In einem Scherbenregen zerplatzten die Fensterscheiben. Übelriechender Qualm breitete sich aus.
Sam wollte aufstehen und fliehen, aber er konnte es nicht. Er war halbbetäubt und konnte kein Glied rühren. Wenn jetzt eine zweite Rakete in dieser Umgebung einschlug und näher an ihn herankam…
Eine überdimensionale Hand ergriff seine Schulter und riß ihn hoch. Eine zweite schnappte sich seine Beine, und dann wurde er hinausgetragen. Die Arme und die Brust, an der Sam lehnte, waren ungeheuer haarig, fast wie bei einem Gorilla. Eine Stimme, die so tief war, als dränge sie vom Ende eines Eisenbahntunnels zu ihm durch, grollte: »Immer mit der Ruhe, Boff.«
»Laß mich runter, Joe«, erwiderte Sam. »Mir ist nichts passiert, außer daß ich mich schäme. Und das ist ganz in Ordnung, weil ich dazu einen Grund habe.«
Der Schock verging und eine relative Kühle drang in ihn ein, um das entstandene Vakuum aufzufüllen. Das Auftauchen des riesenhaften Titanthropen hatte ihn wieder in die Realität zurückgebracht. Der gute alte Joe – auch wenn er nicht gerade mit übermäßiger Intelligenz geschlagen und momentan nicht im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte war –, er ersetzte immer noch ein ganzes Bataillon.
Joe legte seine lederne Rüstung an. In seiner Hand funkelte das stählerne Blatt einer mächtigen Streitaxt.
»Wer ift daf?« fragte er. »Die Leute auf Foul Fity?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Sam. »Glaubst du, daß du kämpfen kannst? Was macht dein Kopf?«
»Er tut weh. Ficher kann ich kämpfen. Wo gehen wir alf erftef hin?«
Sam brachte ihn zur Ebene hinab, wo die Männer sich um König John sammelten. Er hörte, wie jemand seinen Namen rief, wandte sich um und sah die hochgewachsene, linkische Gestalt de Bergeracs. Livy stand neben ihm. Sie trug einen kleinen, runden, lederbezogenen Schild und einen Speer mit eiserner Spitze. Cyranos Hand umklammerte eine lange, mattschimmernde Klinge. Sam riß die Augen auf. Es war ein Rapier.
Cyrano sagte: »Morbleu!« Dann fuhr er auf Esperanto fort: »Der Waffenschmied hat es mir schon nach dem Abendessen gegeben. Er meinte, daß es keinen Grund dazu gäbe, noch weiter darauf zu warten.«
Er hob die Klinge und zersäbelte damit die Luft.
»Ich bin zu neuem Leben erwacht! Stahl – scharfer Stahl!«
Eine nahe Explosion ertönte. Alle warfen sie sich zu Boden. Sam wartete, bis er sicher sein konnte, daß nicht eine weitere Rakete auf sie zuflog, und warf dann einen Blick auf sein Haus. Es hatte einen direkten Treffer erhalten; die ganze Vorderseite war zerstört und ein Feuer war im Begriff, sich mit rasender Schnelligkeit in den einzelnen Räumen auszubreiten. Sein Tagebuch war verloren, nach dem Gral mußte er später sehen. Immerhin war er unzerstörbar.
Ein paar Minuten später trat die Raketenabwehr Parolandos in Aktion. Abgeschossen von hölzernen Rampen jagten die Projektile auf die feindlichen Linien zu, wirbelten Dreck und Gras in die Luft und begannen mit ihrem Vernichtungswerk. Manche landeten direkt vor oder genau zwischen den Feinden und explodierten mit gewaltigen Donnerschlägen, erzeugten leuchtende Feuerbälle und entwickelten fette Rauchfahnen, die der Wind sofort wieder beiseite wehte.
Drei Läufer berichteten: Der Angriff war gleichzeitig von drei Punkten aus erfolgt. Die Hauptstreitmacht des Gegners hatte sich hier konzentriert, um die Führer Parolandos auszuschalten, aber auch deswegen, weil hier der Prototyp des Schiffes und die wichtigsten Fabriken lagen. Die beiden anderen Armeen standen derzeit jeweils eine Meile rechts und links von ihnen. Die Invasoren stammten aus Neu-Britannien und Kleomenujo und wurden von den Ulmaks, die auf der anderen Seite des Flusses lebten, unterstützt. Letztere waren Angehörige eines Volkes, das etwa 30.000 Jahre vor Christi in Sibirien gelebt hatte. Ihre Nachkommen waren jene Völkerschaften gewesen, die über die Beringstraße nach Amerika vorgedrungen waren; die Vorfahren der Indianer.
Da sehen wir, was Johns Nachrichtendienst taugt, dachte Sam. Man kann sich nur auf ihn verlassen, wenn John in der Position des Angreifers ist. Aber wenn er das wäre, würde er nicht hier, wo man ihn jede Sekunde töten kann, herumstehen…
Auf jeden Fall war ihnen nun klar, daß Arthur von Neu-Britannien nicht dazu bereit war, über den Onkel, der ihn einst umgebracht hatte, zu verhandeln.
Immer wieder schlugen auf beiden Seiten die Raketen ein, deren fünf Pfund schwere Köpfe mit kleinen Felsbrocken gefüllt waren, um die Wirkung von Schrapnells hervorzurufen. Die Parolandos hatten einen Vorteil: Sie konnten sich hinlegen, während ihre Raketen innerhalb aufrechtgehender Ziele explodierten, denn die Invasoren mußten sich bewegen und vordringen, sonst hätten sie gleich zu Hause bleiben können.
Dessen ungeachtet war es furchterregend, flach auf dem Bauch zu liegen und auf die nächste Detonation zu warten. Jeder hoffte, daß die nächste Rakete nicht näher kommen würde als die vorhergegangene. Von überallher erklangen die Schreie der Verwundeten, und Sam schätzte sich glücklich, daß die ununterbrochenen Detonationen sein Gehör so stark mitgenommen hatten, daß er sie nicht in voller Lautstärke zu hören brauchte. Dann, auf einmal, hörten die Raketen auf, die Welt in die Luft zu sprengen. Eine riesige Hand legte sich auf Sams Schulter. Als er aufsah, stellte er fest, daß die ihn umringenden Leute nach und nach aufstanden. Unterführer brüllten die halbtauben Männer an, einen Kordon zu bilden. Der Gegner war jetzt so weit an die Linien der Verteidiger herangekommen, daß die Angreifer den Raketenbeschuß vom Fluß aus hatten einstellen müssen, um die eigenen Leute nicht zu gefährden.
Vor ihnen wälzte sich ein einziger, dunkler Körper heran, ein Meer aus schreienden und jubelnden Unholden. Die Angreifer rannten jetzt bergauf, während ihnen eine Welle von Pfeilen entgegenzischte. Die erste Reihe fiel, dann die zweite und die dritte. Aber die Angriffswelle kam keinesfalls zum Erliegen. Mehr und mehr Männer kamen. Sie kletterten einfach über die Leichen der Gefallenen hinweg, durchbrachen die Reihen der Bogenschützen und verwickelten sie in Nahkämpfe.
Sam blieb dicht hinter Joe Miller, der sich langsam vorwärtsbewegte und seine Streitaxt kreisen ließ. Dann fiel der Gigant um, und eine Schar von Invasoren warf sich wie eine Herde Schakale auf seinen Rücken. Sam versuchte zu Joe durchzudringen; seine Axt fuhr auf und nieder, durchschlug ein Schild, einen Kopf und einen hochgereckten Arm, und plötzlich fühlte er einen stechenden Schmerz in der Rippengegend. Er wurde nach hinten geschleudert und verlor die Axt, die durch die Luft segelte, den Schädel eines Angreifers spaltete und ihm so verloren ging. Über ihm war der brennende Boden seines immer noch auf drei Säulen stehenden Hauses.
Sam fiel auf die Seite. Neben ihm lag plötzlich die Handfeuerwaffe, die er an seinem Bett zurückgelassen hatte. Er fand drei Pulverpäckchen und eine Anzahl von Plastikkugeln. Die Explosion mußte alles aus dem Haus herausgeschleudert haben.
Zwei Männer wirbelten wie in einem Tanz an ihm vorbei, während sie einander gepackt hielten, keuchend miteinander rangen und sich gegenseitig in die blutbesudelten Gesichter starrten. Sie hielten an und Sam erkannte König John. Der Mann, mit dem er kämpfte, war größer als er, aber keinesfalls von einer ähnlich schwerfälligen Statur. Er hatte seinen Helm verloren; Sam sah dunkelbraunes Haar und die gleichen blaßblauen Augen wie die Johns.
Sam drückte den Lauf der Pistole nach unten, legte eine Kugel ein und verfuhr mit der Waffe genau so, wie er es am Morgen zuvor in den Hügeln gelernt hatte. Dann entriegelte er den Sicherungshebel und stand auf. Die beiden Männer kämpften noch immer um jeden Fußbreit Boden und versuchten einander die Beine unter dem Körper wegzutreten. John war mit einem stählernen Messer bewaffnet; sein Kontrahent mit einer aus dem gleichen Material gefertigten Streitaxt. Jeder umklammerte den Waffenarm des anderen.
Sam blickte sich um. Momentan drohte ihm keinerlei Gefahr. Er machte einige Schritte nach vorn, hob den Lauf seiner Pistole und umklammerte den Griff fest mit beiden Fäusten. Dann zog er den Stecher durch. Er hörte ein leises Klicken, fühlte wie die Waffe in seinen Händen tanzte, als der Hammer niedersauste, sah einen hellen Lichtblitz, dann eine Rauchwolke und schließlich Johns Gegner zu Boden sinken. Das Geschoß hatte ihm das halbe Gesicht weggerissen.
John stürzte keuchend zu Boden. Schließlich stand er ohne Hast wieder auf und sah Sam an, der bereits wieder im Begriff war, die Pistole nachzuladen. »Vielen Dank, Partner«, sagte John. »Der Mann, den du umgebracht hast, war mein Neffe Arthur!«
Sam schwieg. Wäre er kaltblütig gewesen, hätte er solange gewartet, bis Arthur John getötet hatte, um ihn dann umzubringen. Es war geradezu eine Ironie des Schicksals, daß er, Sam, das Leben jenes Mannes gerettet hatte, von dessen Tod er nur hätte profitieren können. Davon abgesehen konnte man von John keinerlei aufrichtigen Dank erwarten: Aufrichtigkeit war ein Begriff, der in seinem Wortschatz einfach nicht vorkam.
Sam lud die Pistole nach und machte sich dann auf, um nach Joe Miller Ausschau zu halten. Statt dessen sah er Livy, die sich mit erhobenem Schild gegen einen heftig auf sie einschlagenden Ulmak, dessen linker Arm stark blutete, verzweifelt zur Wehr setzte. Der Ulmak besaß eine Axt, die er mit wuchtigen Schlägen in Livys Schild trieb. Ihr Speer war bereits zerbrochen, und es war nur noch eine Frage von Sekunden, daß sie umfiel oder den Schild sinken ließ. Sam ergriff die Pistole am Lauf und drosch mit dem eisernen Knauf auf den Schädel des Mannes ein. Livy fiel weinend und zitternd zu Boden. Normalerweise hätte Sam sich jetzt über sie gebeugt und sie getröstet, aber allem Anschein nach drohte ihr jetzt keine unmittelbare Gefahr mehr – und er hatte Joe Miller noch immer nicht gefunden. Als er sich wieder in das Kampfgetümmel warf, stellte er fest, daß Joe bereits wieder auf den Beinen war: Seine Streitaxt wirbelte durch die Luft und erledigte einen Gegner nach dem anderen.
Ein paar Schritte von einem Mann entfernt, der gerade im Begriff war, Joe hinterrücks anzufallen, blieb Sam stehen und feuerte. Die Axt des Burschen entfiel seinen kraftlosen Händen.
Eine Minute später liefen die Invasoren bereits um ihr Leben. Der Himmel wurde grau, und in dem jetzt besseren Licht konnte man erkennen, daß die Parolandos von Norden und Süden auf sie zukamen. Die beiden restlichen Gruppen der Angreifer waren vernichtet worden, und jetzt rückten die Truppen von allen Seiten gegen sie vor. Außerdem brachten sie Raketen mit, die sie nun gegen die Boote einsetzten, die die Flüchtenden aufnehmen sollten.
Die Menschenleben und Zerstörungen, die der unerwartete Angriff gefordert hatte, deprimierten Sam zutiefst. Zum ersten Mal hatte er allerdings auch das Gefühl, die Niedergeschlagenheit, die ihn jedes Mal ergriff, wenn es zu einem Kampf kam, überwunden zu haben. Die letzten zehn Minuten der Schlacht hatten ihm geradezu Spaß gemacht.
Kurz darauf war das Gefühl aber auch schon wieder vorbei. Ein wildäugiger, nackter Hermann Göring erschien mit blutverschmiertem Schopf auf dem Schlachtfeld. Er riß die Arme hoch und schrie: »Oh, meine Brüder und Schwestern!
Schämt euch! Schämt euch! Ihr habt getötet und gehaßt und Lust gespürt bei all diesem Blut und der Ekstase des Mordens! Warum habt ihr nicht eure Waffen gesenkt und eure Gegner mit Liebe empfangen? Warum ließet ihr sie nicht tun, was sie wollten? Auch wenn ihr dabei umgekommen wäret, hättet ihr den größten und schönsten Sieg davongetragen! Der Feind hätte eure Liebe gespürt – und sich beim nächsten Krieg daran erinnert. Und beim übernächsten Mal hätte er sich vielleicht schon gefragt: >Was tue ich da? Warum tue ich das? Welchen Nutzen hat es, was ich hier tue? Es bringt mir doch nichts ein< – und eure Liebe hätte sein steinernes Herz zum Erweichen gebracht und…«
John, der jetzt hinter Göring auftauchte, versetzte dem Mann mit dem Griff seines Messers einen Schlag auf den Kopf. Göring taumelte, fiel auf das Gesicht und rührte sich nicht mehr.
»Die richtige Antwort für einen Defätisten«, schrie König John. Er sah sich mit einem wilden Blick um und kreischte dann: »Wo sind meine Botschafter Trimalchio und Mordaunt?«
Sam erwiderte: »Keiner von beiden würde so dumm sein und sich jetzt hier herumtreiben. Und du wirst sie niemals in die Finger bekommen, weil sie jetzt wissen, daß du von ihrem schändlichen Plan weißt, uns an Arthur zu verkaufen.«
Obwohl Johns Schlag auf Görings Kopf bei der in Parolando garantierten Meinungsfreiheit ein Vergehen gewesen war, beabsichtigte Sam in diesem Augenblick nicht, gegen den Ex-König vorzugehen. Im Augenblick konnte es einen großen Fehler bedeuten, ihn festsetzen zu lassen. Ganz davon abgesehen, hätte nicht mehr viel gefehlt, und er hätte Göring selbst niedergeschlagen.
Die immer noch weinende Livy erhob sich und ging fort. Sam folgte ihr zu einem Leichenberg, auf dessen Spitze Cyrano saß. Der Franzose hatte ein rundes Dutzend Wunden davongetragen, von denen allerdings keine ernsthaft zu sein schien. Sein Rapier war von der Spitze bis zum Griff mit Blut bedeckt. Er hatte sich wirklich wacker geschlagen.
Als Livy sich an ihn klammerte, blickte Sam zur Seite. Sie hatte ihm nicht einmal dafür gedankt, daß er ihr das Leben gerettet hatte.
Hinter ihm erklang ein Knirschen. Sam wandte sich um und sah, wie die Überreste seines Hauses ineinander stürzten.
Obwohl er sich sehr erschöpft fühlte, wußte er, daß der Tag für ihn nur wenig Zeit zum Ausruhen bringen würde. Zunächst mußte festgestellt werden, inwiefern die Zerstörungen sie in ihrer Arbeit zurückgeworfen hatten. Dann mußte man die Toten einsammeln und in die Verwertungsfabrik bringen, da man ihr Fett benötigte, um daraus Glyzerin herzustellen. Diese Praxis war trotz ihrer Scheußlichkeit unumgänglich; und außerdem tat sie den Gefallenen nicht mehr weh: Ein jeder von ihnen würde binnen vierundzwanzig Stunden an anderer Stelle des Flußtales materialisieren und zu neuem Leben erwachen.
Zusätzlich hatte sich die gesamte Bevölkerung dafür bereitzuhalten, die beschädigten Befestigungsanlagen wieder aufzurichten. Kundschafter und Kuriere mußten ausgesandt werden, um genau zu prüfen, wie es mit der militärischen Stärke Parolandos bestellt war. Es war nicht auszuschließen, daß die Neu-Britannier zusammen mit den Kleomenujo und den Ulmaks bald zu einem Vergeltungsschlag ausholten.
Einer von Sams Hauptmännern berichtete, daß man Kleomenes, den Führer von Kleomenujo, tot am Flußufer aufgefunden habe. Ein Schrapnell hatte seinen Schädel durchdrungen und dem Leben des Spartaners, Halbruder des großen Leonidas, des Verteidigers des Thermopylen-Passes, ein Ende bereitet. Zumindest jedoch seinem Leben in dieser Gegend der Flußwelt.
Sam beauftragte zwei Männer, sich sofort mit Booten aufzumachen und die beiden besiegten Nationen aufzusuchen. Sie sollten dort bekannt geben, daß Parolando keinesfalls einen Rachefeldzug plante, vorausgesetzt, die neuen Führer dieser Länder erklärten sich zu einer Freundschaftserklärung gegenüber dem Sieger bereit. John beschwerte sich darüber mit dem Argument, daß er, was dieses Thema anging, nicht konsultiert worden sei. Es kam zu einer heftigen, aber kurzen Auseinandersetzung. Schließlich gab Sam zu, daß John im Prinzip sicher recht habe; aber leider sei jetzt nicht die richtige Zeit, um gewisse Dinge gründlich auszudiskutieren. Daraufhin erwiderte John, daß Sam aufgrund der bestehenden Gesetze dazu verpflichtet sei, sich die nötige Zeit zu nehmen, da jede getroffene Entscheidung der Zustimmung beider Seiten bedürfe.
Obwohl es Sam nicht leichtfiel, mußte er John auch in diesem Punkt recht geben. Es war einfach unmöglich, daß sie einander widersprechende Anweisungen gaben.
Dann machten sie sich zusammen auf, um die Fabriken zu inspizieren. Sie waren nicht allzu schwer beschädigt worden, da die Invasoren möglicherweise vorgehabt hatten, sie in ihren Besitz zu bringen. Das Amphibienfahrzeug, die Feuerdrache 1, war unversehrt. Bei der Vorstellung, das Boot wäre bereits fertig gewesen und könne in die Hände des Feindes gefallen sein, schauderte Sam. Dann hätte es für Parolando keine Rettung mehr gegeben. Von jetzt ab mußten sie das Gefährt noch schärfer bewachen.
Nach dem Mittagessen fiel er im Rathaus in einen tiefen Schlaf. Als er geweckt wurde, hatte Sam immer noch den Eindruck, die Augen gerade erst geschlossen zu haben. Vor ihm stand Joe. Sein Atem roch nach einer starken Dosis Alkohol.
»Die Delegation von Foul Fity ift gerade angekommen«, meldete er.
»Firebrass!« rief Sam aus und erhob sich aus seinem Sessel. »Den hätte ich beinahe vergessen! Und ausgerechnet jetzt muß er bei uns aufkreuzen.«
Er ging an den Fluß hinunter, wo in der Nähe eines Gralsteins ein Katamaran angelegt hatte. John wartete bereits auf ihn und begrüßte die Delegation, die aus sechs Schwarzen, zwei Arabern und zwei Indern bestand. Firebrass war ein kleiner, bronzehäutiger Mann mit lockigem Haar und braun-grün gesprenkelten Augen. Seine hohe Stirn, die breiten, muskulösen Schultern kontrastierten stark mit seinen beinahe dürren Beinen. Er sprach zunächst Esperanto mit ihnen und wechselte dann ins Englische über. Er benutzte ein ziemlich komisches Englisch, das von Ausdrücken und Begriffen wimmelte, die Sam nicht verstand. Dennoch war der Mann ihm sympathisch. Er hatte eine angenehme Ausstrahlung und einen offenen Charakter.
»Reden wir besser Esperanto«, schlug Sam lächelnd vor und schenkte Firebrass noch etwas Scotch nach. »Ist die Sprache, die Sie benutzen, eine Fachsprache der Raumfahrer oder der in Soul City vorherrschende Dialekt?«
»Marsianisch«, erwiderte Firebrass. »Das Englisch, das man in Soul City spricht, ist ganz schön daneben, deswegen bedienen wir uns hauptsächlich des Esperanto, obwohl Hacking an sich den Plan hatte, das Arabische zur Hauptsprache zu machen. Aber mittlerweile ist er mit seinen Arabern nicht mehr so besonders glücklich.« Bei den letzten Worten, die er etwas leiser ausgesprochen hatte, fiel sein Blick auf Abd ar-Rahman und Ali Fazghuli, die beiden arabischen Angehörigen der Delegation.
»Wie Sie sicher schon gemerkt haben«, meinte Sam, »werden wir wenig Zeit haben, eine lange und gemächliche Konferenz abzuhalten. Jedenfalls nicht jetzt. Zuerst müssen wir in unserem Land Ordnung schaffen; herausfinden, was außerhalb der Grenzen vor sich geht, und unsere Verteidigungsanlagen reparieren. Aber natürlich sind Sie bei uns willkommen. Ich bin sicher, daß wir uns in wenigen Tagen unter erfreulicheren Umständen wieder zusammensetzen können.«
»Macht nichts«, erwiderte Firebrass. »Ich werde mich, wenn Sie nichts dagegen haben, in der Zwischenzeit ein wenig bei Ihnen umsehen.«
»Was mich anbetrifft, habe ich nichts dagegen. Aber wir sollten nicht versäumen, zu diesem Punkt auch die Ansichten meines Mitkonsuls zu hören.«
Obwohl ihm Firebrass’ Vorhaben überhaupt nicht in den Kram paßte, grinste König John wie ein Honigkuchenpferd. Auch er habe keinerlei Bedenken gegen die Delegierten, sagte er, aber dennoch bestünde er auf die Präsenz einer Ehrengarde, die ihr zu jeder Zeit, wenn sie die ihnen zugewiesenen Quartiere verlassen wolle, zu ihrer Verfügung stünde. Firebrass sprach ihm seinen Dank aus, aber einer seiner Begleiter, ein Mann namens Abdulla X, protestierte lautstark gegen diese Behandlung und benutzte dabei hin und wieder einige unfeine Worte. Mehrere Minuten lang sagte Firebrass nichts, dann hob er den Kopf und riet Abdullah, etwas mehr Freundlichkeit an den Tag zu legen, schließlich halte man sich in Parolando als Gast auf. Sam war ihm für diesen Einspruch äußerst dankbar; er kam allerdings nicht an der heimlichen Frage vorbei, ob Abdullahs Protest und Firebrass’ Reaktion darauf nicht von vornherein abgesprochen waren.
Des weiteren war es nicht einfach für ihn gewesen, still dazusitzen und sich Abdullahs Beschimpfungen anzuhören, auch wenn sie gegen die weiße Rasse im allgemeinen und gegen niemand im besonderen vorgebracht worden waren.
Obwohl die Anklagen des Farbigen ihn trafen, war er innerlich mit ihm einer Meinung. Zumindest in den Fällen, wo sie die Vergangenheit betrafen. Aber die alte Erde war tot; sie lebten nun auf einer völlig anderen Welt.
Sam geleitete die Delegierten persönlich zu den drei Hütten, in denen sie paarweise wohnen sollten. Die Häuser standen leer, ihre ehemaligen Bewohner waren bei der vergangenen Schlacht ums Leben gekommen. Dann quartierte er sich selbst in unmittelbarer Nähe der Besucher ein.
Vom Ufer her drang das Geräusch von Trommelschlägen an seine Ohren. Eine Minute später wurden die Signale von der anderen Flußseite erwidert. Der neue Häuptling der Ulmaks bat um Frieden. Man hatte den alten, Shubgrain, umgebracht, und man sei bereit, seinen Kopf herüberzubringen, wenn das einem Frieden dienlich sein könne: Er habe, indem er sein Volk in eine Niederlage hineinführte, sein Leben verwirkt.
Sam gab die Anweisung aus, sofort Kontakt mit dem neuen Häuptling, einem Mann namens Threelburm, aufzunehmen und ihn zu einer Konferenz einzuladen.
Dann meldeten die Trommeln aus Chernskys Land, daß Iyeyasu, der einen zwölf Meilen langen Streifen Land zwischen Neu-Britannien und Kleomenujo beherrschte, das Land des gefallenen Arthur überfallen habe. Obwohl das bedeutete, daß Neu-Britannien für Parolando keine Gefahr mehr darstellte, beunruhigte diese Nachricht Sam dennoch, Iyeyasu war ein ziemlich eitler Mann. Wenn es ihm erst einmal gelungen war, sein Reich mit Neu-Britannien zu vereinigen, konnte er schnell zu der Ansicht gelangen, nun stark genug zu sein, um auch Parolando zu vereinnahmen.
Die Trommeln schwiegen noch immer nicht. Publius Crassus übersandte seine besten Grüße und Empfehlungen und kündigte für den nächsten Tag seinen Besuch an, um zu sehen, in welcher Weise er Parolando dienlich sein könne.
Und um herauszubekommen, wie stark wir angeschlagen sind, und ob wir ein leichtes Ziel für ihn bieten, dachte Sam. Bis jetzt hatte Publius sich kooperativ gezeigt, aber wer konnte schon wissen, ob es einen Mann, der schon unter Julius Cäsar gedient hatte, nicht danach gelüstete, sein Imperium ebenfalls zu vergrößern?
Göring, den blutiggeschlagenen Kopf mit zwei Handtüchern umwickelt, taumelte, gestützt von zweien seiner Jünger, vorbei. Sam hoffte, daß der Mann den Wink, daß er Parolando so schnell wie möglich verlassen sollte, verstanden hatte, obwohl er die Auffassungsgabe des Deutschen nicht sonderlich hoch einschätzte.
Als er in dieser Nacht zu Bett ging, flackerten überall im Land die Fackeln. Wachen patrouillierten auf und ab und starrten in der Dunkelheit jedem Schatten nach, den die Nebelbänke über dem Fluß warfen. Sam schlief unruhig, trotz seines Erschöpfungszustandes; er wälzte sich hin und her und wachte einmal sogar mit dem sicheren Gefühl auf, daß sich in der Hütte eine dritte Person befand. Er rechnete damit, daß jeden Augenblick die schattenhaften Umrisse des geheimnisvollen Fremden aus der Finsternis auftauchten und seine Gestalt neben seinem Lager niederkniete. Aber es war niemand da außer dem monströsen Leib Joe Millers, der auf einem großen Bambusbett in Sams unmittelbarer Nähe schlief.